Z wie Zuhören. →Marginalisierte Menschen sprechen. Das Problem ist, es wird ihnen nicht zugehört. Während Sprechen in westlichen Demokratien hochgehalten wird, gibt es traditionell wenig Auseinandersetzung mit dem Zuhören. Die Frage, wer oder was, wie gehört wird, ist abhängig von den Positionen innerhalb gesellschaftlicher Machtbeziehungen. Ein rassistischer kann uns unempfänglich machen für Botschaften, die unseren Gewissheiten widersprechen. Zuhören umfasst nicht nur Wahrnehmung, sondern auch die Interpretation und das Verstehen. Neben Worten und Sätzen auch Zwischentöne, Stille, Schweigen, Ungesagtes wahrzunehmen und zu interpretieren, ist ein Aspekt des Zuhörens.
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Zuhören hat eine zentrale Bedeutung, wenn es darum geht, gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse zu transformieren. Die post_koloniale Kritikerin Gayatri Chakravorty Spivak betont, dass es zum Sprechen nicht nur eine:n Sprecher:in braucht, sondern auch eine Person, der:die zuhört. In der Geschichte der westlichen politischen Philosophie wird Sprechen als Kernstück politischen Handelns gesehen. Es wird in Verbindung gesetzt mit der Fähigkeit, die Welt zu verstehen und in Worten vermitteln zu können und rückt damit ins Zentrum westlicher Schlüsselbegriffe wie Mündigkeit, Demokratie und Aufklärung. Die Freiheit, eine Meinung zu äussern, ist ein Grundbaustein eines liberalen Demokratieverständnisses und wird entsprechend gesetzlich geschützt. Anders verhält es sich mit der Fähigkeit des Zuhörens. Es wird kaum reflektiert, verfeinert oder gelernt. Es scheint in dieser Tradition kaum Relevanz zu haben. Zuhören kann mit Spivak als vernachlässigten Teil des Sprechens und politischen Handelns verstanden werden.
Was oder wie gehört wird, ist meistens damit verbunden, wer spricht. M→Marginalisierte Menschen sprechen. Das Problem ist, dass ihnen oft nicht zugehört wird. Wem und wie zugehört wird, ist machtabhängig. Es sind strukturelle Faktoren, die erschweren oder verhindern, dass marginalisierten Menschen zugehört wird. Diese Faktoren Sie beeinflussen beispielsweise, welches Sprechen als «wirr», «emotional» oder «aggressiv» und welches als «vernünftig» oder «mündig» wahrgenommen wird. Sie führen dazu, dass Dominanzgesellschaften unempfänglich werden für die Kritik an Ungleichheitsstrukturen. Die Forderungen antirassistischer, feministischer, linker oder anderer transformativer Bewegungen nach Gehör sind auch in diesem Sinne zu verstehen.
Rassismus erschwert oder verhindert, dass →BIPoC zugehört wird. Er verzerrt zudem, was gehört wird: Beispielsweise, wenn die Polizei die psychische Krankheit eines Schwarzen Mannes als Bedrohung deutet und ihn, anstatt zu unterstützen, erschiesst.
Umgekehrt verbinden wir gewisse Sprechweisen mit rassifizierten Gruppen. Sowohl der Kasperli als auch die deutschen Synchronsprecher:innen von Hollywood-Filmen erfanden beispielsweise «chinesische» oder «afrikanische» Akzente für asiatische beziehungsweise Schwarze Figuren. Im einen Fall beeinflusst das, was wir sehen, die Art wie wir zuhören, und im anderen machen wir uns ein Bild von der Person, beeinflusst von dem, was wir hören. Wie und was wir verstehen, ist also auch immer wieder ein Zusammenspiel von Erinnerung und verschiedenen Sinneswahrnehmungen.
Anders als Hören (das blosse Wahrnehmung von Klängen) ist Zuhören eine aktive Handlung: wahrgenommene Klänge werden interpretiert und eingeordnet (als Zwitschern, als Aussage, als Rauschen, als Störung …). Hören ist unvermittelt. Das Interpretieren und das Aufbauen von Verständnis für das Gehörte hingegen, kann über den Moment der Wahrnehmung des Klangs hinausgehen (z. B. wenn uns ein erzählter Witz erst viel später aufgeht) und hat eine politische Dimension. Unser Zuhören ist davon geprägt, welche vorangehenden Klänge wir gehört haben, welche uns vertraut sind, welche uns beispielsweise als verständliche Sprache bekannt sind. Einerseits dienen uns bekannte Klanglandschaften als unerlässliche Orientierung (vgl. →Fundus), andererseits können sie uns genau deswegen unempfänglich machen für Klänge und Aussagen, die über unsere Gewissheiten hinausgehen oder diesen widersprechen.
Für das Zu-Hören ist neben Klängen nicht zuletzt auch Stille bedeutsam. Schweigen – zum Beispiel als Nicht-Denunzieren – kann eine widerständige Handlung sein. Stille, Schweigen, Pausen, →Lücken öffnen den Vorstellungsraum für Dinge, die vielleicht nicht gesagt werden, aber doch präsent sind. Sie bilden einen Raum, wo Ungesagtes nicht in Gesprochenes überführt wird und wo neue Formen der politischen Darstellung anklingen.
Denn anders als in der liberalen politischen Theorie suggeriert wird, ist Sprechen nicht immer befreiend. Es kann Zwänge verstetigen, kann gewaltvoll und gewalttragend sein. Das zeigen nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit rassistischen Begriffen oder die Auswirkungen von Hassreden (Hatespeech) auf die Belasteten.