Type: Glossary Entry
Identifier:
amnesie
Description
A wie Amnesie heisst Gedächtnisverlust. Wenn europäische Länder ihre koloniale Geschichte ausblenden oder nur selektiv erinnern, nennt man das auch koloniale Amnesie. Kollektives Vergessen ist nie neutral, sondern immer selektiv. Auch Gewalt gegen besonders verletzliche Menschengruppen passt (meist) nicht in das Selbstbild europäischer Nationen und wird immer wieder verschwiegen.
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Amnesie heisst Gedächtnisverlust. Vergessen kann eine einzelne Person, aber auch ein Kollektiv, z.B. eine Gesellschaft. Ein Ereignis wird als irrelevant erachtet, nicht festgehalten, nicht archiviert, nicht gesucht, nicht wieder aufgerufen, nicht wieder erzählt. Wenn Gesellschaften etwas Bestimmtes vergessen und anderes erinnern, hat das damit zu tun, welche Geschichten über diese Gesellschaft erzählt werden (sollen) und welche nicht (vgl. →Museum). Kollektives Erinnern und Vergessen ist nicht neutral. Kollektive Amnesie bezeichnet ein selektives Vergessen, indem z. B. gewaltvolle historische Ereignisse übergangen oder romantisiert und die Geschichte(n) der Benachteiligten ausgelassen werden (vgl. →Lücke).
Wenn europäische Länder ihre koloniale Geschichte allgemein vergessen, oder nur selektiv erinnern, nennt sich dies koloniale Amnesie. Koloniale Amnesie verhindert das Aufarbeiten von kolonialer Gewalt. Sie verhindert auch, dass da, wo historisches Unrecht weiterhin die sozialen Beziehungen prägt, auf →Reparationen hingearbeitet werden kann.
Wie Fatima Moumouni einst sagte: «D’ Schwiiz isch so guet im Vergässe, dass si vergässe het, dass si überhaupt vergisst, und das machts unglaublich schwirig, über bestimmti Theme überhaupt z schwätze!»
Weil das so ist, kommt an dieser Stelle eine kleine, unvollständige Liste von Themen, die oft und immer wieder vergessen werden.
Immer wieder wird vergessen, dass es eine Schweiz gibt, die nicht weiss ist. Zum Beispiel behaupteten lokale und internationale Medien 2007, Ricardo Lumengo sei der erste Schwarze Parlamentarier der Schweiz und vergassen, dass sie 1971 die Schwarze Nationalrätin Tilo Frey mit Überschriften wie «Die Nationalratskandidatur aus Kamerun» →exotisiert hatten. Oder 2015 wurde Angélique Beldner als erste Schwarze Moderatorin am Schweizer Fernsehen gefeiert, obwohl es davor und zu diesem Zeitpunkt beim SRF, RTS und RSI auch andere gab.
Vergessen wird auch immer wieder, dass wesentliche Teile der bestehenden Infrastruktur in der Schweiz durch hunderttausende schlecht bezahlte Arbeitskräfte im Saisonnierstatut (1934 – 2002) gebaut wurden. Vergessen wird insbesondere, die rechtliche, soziale und wirtschaftliche Ungleichstellung und das Leid, das dies bis heute in Generationenübergreifend hinterlassen hat.
Vergessen werden auch post_koloniale Verflechtungen: Von der Rösti über das eingelagerte Gold und die →exotischen Spielgefährtinnen des Kasperli bis hin zum Schmutzli, der den Samichlaus als «Diener» begleitet, verweist vieles, das als ur-schweizerisch gilt auf die Verstrickungen der Schweiz in militärische, wissenschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle →koloniale Projekte. Diese Verstrickungen prägen bis heute die globalen Beziehungen sowie die sozialen Beziehungen in der Schweiz.
In der Schweiz werden allgemein Geschichten von Gewalt gegen – je nach Epoche – besonders verletzliche Menschen äusserst ungern erinnert. Beispiele des 20. Jahrhunderts sind die Geschichten der Verdingkinder, der sogenannten Schrankkinder, der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, der Abschiebung jüdischer Geflüchteter oder der politischen und rechtlichen Entmündigung von Frauen, nichtbinären und queeren Menschen.
Immer wieder vergessen wird auch der →Widerstand gegen Rassismus.