[9783839405505 - Auszug aus dem Lager] Das Öffnen der Lager und das Schliessen der Augen.pdf
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[9783839405505 - Auszug aus de
| ISBN:
978-3-8394-0550-5;978-3-8394-0550-5 Search in worldcat.org
| doi:
10.14361/9783839405505 Search article via doi.org
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Kapitel aus "Auszug aus dem Lager"
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Anmerkungen
(9.10.2023, 15:14:12)

zur Technik der Montage



„___ Vielleicht ist es Walter Benjamin, der für das Terrain der Geschichte mit größter Finesse und Schärfe formuliert hat, was Lesbarkeit bedeutet. Jenseits der großen strukturellen und allgemeinen Interpretationen des orthodoxen historischen Materialismus plädiert Benjamin dafür, daß die „Lesbarkeit“ der Geschichte sich an ihrer konkreten, ihr inhärenten und singulären „Anschaulichkeit“ entfalten muß. Und insofern es darum geht, nicht nur zu „sehen, sondern zu verstehen, gilt es, „das Prinzip der Montage in die Geschichte zu übernehmen“10“ (Hubermann 2015:13f)

 

„Die Montage – ein literarisches Prinzip, das sich die Surrealisten zu eigen machten und auch die Herausgeber der, wie die Annales, 1929 gegründeten Zeitschrift Documents, aber auch, und vor allem, ein filmisches Prinzip, das zur selben Zeit von Sergej Eisenstein, Dsiga Wertow, Abel Gance oder Fritz Lang entwickelt wurde.“ (Hubermann 2015:14)

„___ Benjamin unterstreicht, daß dieses Prinzip nichts anderes bedeutet, als die in ihren Relationen, Bewegungen und Intervallen gedachten Einzigkeiten in den Vordergrund zu rücken: Ziel der Montage ist es, „die großen Konstruktionen aus kleinsten, scharf und schneidend konfektionierten Baugliedern zu errichten“, um sodann „in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken“11. Von dieser Überlegung ausgehend, wird die Lesbarkeit der Vergangenheit von Benjamin gegen jede Forderung nach allgemeinen Begriffen oder „Wesenheiten“ – also gegen Heidegger, aber auch gegen die Jungschen Archetypen – als bildlich charakterisiert.“ (Hubermann 2015:14-1)

„___ Die historische Erkenntnis kann nur dem „Jetzt“ entwachsen, das heißt einem gegenwärtigen Zustand unserer Erfahrung, wenn aus dem ungeheuren Fundus von Texten, Bildern und Zeugnissen der Vergangenheit ein Augenblick des Erinnerns und der Lesbarkeit hervortritt, der – und dies ist grundlegend für Benjamins Konzept – als kritischer Punkt erscheint, als Symptom, als ein Unbehagen in der Tradition, die bislang der Vergangenheit ihr mehr oder weniger wiedererkennbares Tableau verlieh. Diesen kritischen Punkt nun nennt Benjamin ein Bild – womit er natürlich keine hübsche Pinselei meint: ein „dialektisches Bild“, das er beschreibt als die Art, wie „das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt.“15 Der Blitz in dieser Formulierung spricht von der Flüchtigkeit und Fragilität dieser Erscheinung, die man im Fluge erfassen muß, weil sie allzuleicht ungesehen vorübergehen kann; die Konstellation spricht von der großen Komplexität, der Dichte sozusagen, der Überdeterminiertheit dieses Phänomens, vergleichbar einem fossilen Tier, das sich bewegte, das aus einem Anflug vorüberhuschenden Lichts bestünde, etwa so wie ein übergroßes vorüberflackerndes einzelnes Filmbild. Auch von der Notwendigkeit der Montage spricht diese Formulierung: damit der Blitz – diese Monade – nicht abgetrennt bleibt von dem mannigfaltigen Himmel, aus dem er flüchtig hervortritt.16“ - W. Benjamin, Das PassagenWerk [1927–1940]. In: W. Benjamin, Gesammelte Schriften. Bd. V, 1. Frankfurt am Main 1982, S. 575 (N 2,6); fortan: Benjamin 1982“ (Hubermann 2015:14f)

 

„In einem späteren Fragment des „Passagen-Werks“ versucht Benjamin diesen Begriff der geschichtlichen Lesbarkeit in fünf Wörter zu fassen: „Bilder“, „Monade“, „Erfahrung“, „immanente Kritik“ und schließlich „Rettung“. Benjamin 1982, S. 595f. (N 11,4)“ (Hubermann 2015:15)

„___ Wir werden die Augen vor diesen Bildern so lange verschließen, wie der Benjaminsche „kritische Punkt“ nicht gefunden ist, aus dem die Möglichkeit aufsteigt, daß sie „gelesen“ werden, will heißen: verzeitlicht, an die in Worte gefaßte Erfahrung angebunden – und sei es nur auf einer ihnen beiden inhärenten Grenze. Dieser kritische Punkt muß konstruiert werden. Eine Lesbarkeit für diese Bilder zu konstruieren hieße folglich, sich nicht mit der Erläuterung zu begnügen, die der von der befreienden Armee beauftragte Kommentator hinzufügt. Es hieße, diese Bilder neu zu verorten, in einem anderen Kontext, einer anderen Montage, mit“ (Hubermann 2015:21)

„neuen Texten: zum Beispiel den Berichten der Überlebenden darüber, was es für sie bedeutete, als sich ihr Lager öffnete.“ (Hubermann 2015:22)

„Ist man zu weit vom Gegenstand entfernt, verliert man ihn aus dem Blick (zum Beispiel, wenn man von den Lagern oder der Shoah allgemein spricht, als reinem Begriff, der uns versteinert), ist man zu nah, verliert man das Sehvermögen (also die Fähigkeit, einen Standpunkt zu entwickeln, was nur gelingt durch die Herstellung von Relationen, durch Montage“ (Hubermann 2015:33)

„___ Kurz, die Voraussetzung für eine Lesbarkeit der Bilder von 1945, wie der Film von 1988 sie bietet, ist nicht gegeben ohne das, was ich im Zusammenhang eines ähnlichen Falls das ethische Moment des Blickes genannt habe – ich sprach damals von Jorge Semprún und seiner nachträglichen Beschreibung, wie er, kaum aus Buchenwald befreit, die Bilder des Lagers sieht, die die Amerikaner von der Befreiung gedreht haben.103 Diese ethische Dimension ist aber nicht einfach eine moralische, geschweige denn moralisierende Haltung: Sie ist vielmehr prinzipiell an den Akt gebunden, den Bildern ein Wissen beizugeben, deren „stummer“ Zustand uns selbst zunächst einfach „stumm“ machte, stumm vor Empörung. Würde entsteht im Bild nur durch dialektische Montage, also auch durch die Arbeit an dem, was der Film aus dem Jahr 1988 – der dem ursprünglichen Schnitt getreu folgt, indem auch er eine einzige Einstellung wählt: den Blickwinkel der Häftlinge, die auf dem Erdhügel stehen – uns von den spärlichen Aufnahmen aus dem Jahr 1945 zeigt.“ (Hubermann 2015:33)



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